Wenn die Krankenkasse nicht zahlt
#7
Hi Anja,

nein, ich wollte Dich und keinen anderen einschüchtern. Vielleicht hätte ich eine Triggerwarnung drüber schreiben sollen, denn das der Text triggert, sieht man ja an Deiner Reaktion. Dass ein Mensch eine gewisse Kraft und Stärke hat, bedeutet noch längst nicht, dass er diese gegen Dich einsetzen will oder wird. Da wären noch viele weitere Zwischenschritte nötig. Das sollte man sich immer bewusst machen, wenn man vor jemandem Angst hat, denn der will vielleicht gar nix von Dir, auch wenn er martialisch rüber kommt.

Sowas zu machen, dass man sich zumindest ein bissl fachkundig mal wehrt, kann auch nicht jeder. Ich schätze mal kein Anfänger oder Therapieneuling kann das, denn er hat ja selbst null Durchblick, wenn er da krank wurde, alles sich dreht und er sich in einer anderen Welt wiederfindet, wo weder auf's Außen noch auf's eigene Innen Verlass mehr ist. Da hat man schon genug mit sich zu tun.

Auf der anderen Seite denke ich aber, dass es auch viele Leute gibt, die recht erfahren sind und die eigentlich in der Lage wären, dass sie sowas mal machen. Aber oft sind die bei guten Therapeuten, kennen sich aus und leben nach dem Motto:"Hauptsache, mir geht's gut. Was gehen mich die anderen an.". Und da gibt's so viele Patientinnen, die früher geschädigt wurden, die das heute wissen und die still irgendwo hocken und nie den Mund aufmachen.

Ich glaube, wenn nicht soviele still und feige geschwiegen hätten, dann hätten wir schon längst eine bessere, neue Psy-Medizin und andere Bedingungen gehabt. Ich glaube, da wäre viel vermeidbar gewesen, wenn sich frühere Generationen von Patienten mal getraut hätten, für die Sache einzutreten.

Auch ich hab' Angst, wenn ich sowas tue. Auch für mich waren die ersten deftigen Beschwerden schwer. Man muss sich überwinden, wenn man seine Meinung offen und öffentlich nach außen vertritt, wenn man sich gegen Kostenträgerentscheidungen wehrt, wenn man nach schlecht gelaufenen Therapien die Behandler zur Rechenschaft zieht. Das kostet jeden Menschen Überwindung und jeder muss, wenn er sowas macht, mit negativen Gefühlen, Ängsten und negativen Reakionen und neuen Enttäuschungen rechnen und damit klarkommen.

So gut wie ich es verstehe, dass man oft einfach nicht kann und in den ganzen fürchterlichen Gefühlen stecken bleibt, wo man einfach wie gelähmt ist, so schlecht ist es auch für diese Patienten. Man muss da mal drüber rauswachsen und das kostet Eigeninitiative, Kraft und Mut, das ist anstrengend. Dem muss man sich langsam nähern, sonst schafft man das nie.

Für viele wird es zu früh sein, sowas von ihnen zu fordern, weil sie einfach noch nicht so weit sind. Das ist auch eine Entwicklung, die dem voraus gehen muss. Wenn das Gehirn noch nicht soweit ist, dann kann der Mensch das nicht tun.

Ich hab' nach einer EMDR-Set fast am Ende der Bearbeitung des einen Traumas vom Therapeuten die Frage gestellt bekommen:"Was haben Sie daraus gelernt?". Ich wollte den Thera noch fragen, wie er das meint, aber er hat einfach mit den Augenbewegungen weitergemacht, das Gehirn hat gerattert und dann war er durch, hat aufgehört mit den Augenbewegungen. Ich war einen Moment total baff und wusste gar nichts mehr, doch dann kam eine gewisse Konzentration und das Gehirn machte alles wie von alleine. Dann sagte ich wütend und bestimmt:"Ich werde mich - wenn es mir schlecht geht - nie wieder hinsetzen und warten, dass mir jemand hilft. Ich werde mir selber helben und nicht auf andere Leute warten, die eh nie helfen werden.". Der Therapeut rieß kurz überrascht die Augen auf und meinte dann mit einem zufriedenen Grinsen: "SEHR GUT.".

Das ist es, worum es in einer Traumatherapie geht:
Rauskommen aus dem Schock, in dem man bewegungslos und wirkungslos nur noch Objekt des ganzen Geschehens ist, nur der Spielball von anderen ist, alles mit sich machen lässt, und selbst aktiv werden, wieder zum Herr der Lage werden, sich wehren, selbst was tun, nicht in der Opferrolle auf die Retter und Rettung warten, sondern sich selbst beschützen und stabil halten lernen. Der Halt muss aus sich selbst kommen.

Das gilt für alle Lebensbereiche und auch für den Umgang mit Behörden und sonstigen Naturkatastrophen und Menschen.

Das das nicht einfach so geht, wenn man Jahre bzw. vielleicht sogar Jahrzehnte eingeschüchtert wurde, ist klar.

Aber es ist das Ziel, das zu erreichen. Und da muss ich manchmal doch manche Patientinnen kritisieren, die sehr lange Therapie haben oder auch schlechte, die blockiert, die aber auch Lebenserfahrung haben, aber aus allem nichts gemacht haben. Es geht nicht nur drum, in Therapien was zu lernen, sondern das Leben ist überall ein Trainingsplatz und man muss in Eigenregie lernen, von sich aus. Wenn eine z.B. 50-Jährige heute noch immer agiert wie sie das vor 20 Jahren getan hat, ohne mal stärker und mutiger zu werden, dann hat sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Es geht nicht drum, dass man dies und jenes ja mit so und so viel Lebensjahren können müsste. Jeder ist verschieden, hatte unterschiedliche Bedingungen. Aber im Laufe der Zeit muss man sich entwickeln und dazu lernen. Wenn ich in 20 oder 30 Jahren nichts dazu gelernt habe, dann hab' ich in meiner persönlichen Entwicklung versagt. Das wollen die meisten nicht gerne hören, aber es ist auch Fakt. Es geht auch nicht um Bewerten, sondern eher so zu zeigen, was die Konsequenzen sind, wenn sich keiner was traut und alle nur ducken und schlucken, wie die Umstände sind. Ich denke, dass da in den Generationen zuvor wirklich zu wenig Kampfgeist und Mut an den Tag gelegt wurde, sonst hätten wir heute nicht solche Verhältnisse. Es gehören immer zwei dazu: Einer, der es macht, und einer, der es mit sich machen lässt. Natürlich gilt für Kinder und Jugendliche was anderes als für Erwachsene. Geschädigte Erwachsene werden sich wieder verhalten wie in der Kindheit gelernt, so wie der Elefant, der als Jungtier angebunden wurde, später sich auch anbinden lässt und nicht mehr Gegenwehr an den Tag legt, weil er als Kind lernte, dass er machen kann, was er will, er kann von dem Strick nicht wegkommen. Sich das bewusst zu machen, dass man es trotz aller negativen Gefühle wagen muss, um es schaffen zu können, ist ein zentraler Schritt nach vorne. Und wenn es trotz allen Bemühungen nicht geht, dann ist es so stark im Gehirn verankert, dass man eben mit Traumaaufarbeitung da ran muss, weil's auf der rein kognitiven Ebene nicht zu bewältigen ist.

Es gehört zu allem Überwindung, der Entschluß, es anders zu machen als früher. Sich vorwagen ist keine einfache Sache, aber wenn man es nie versucht, wird man darin nie sicherer werden.

Und ich weiß auch, dass es viele gibt, die so als Kind und im weiteren Leben fertig gemacht wurden, dass das ganze Gehirn voller Trigger hockt, die ständig anspringen, von denen kann man in der Tat nicht verlangen, dass sie noch für ein besseres Gesundheitswesen kämpfen können, die haben alle Hände voll damit zu tun, diese ganzen Trigger jeden Tag auszuhalten und mühseelig zu lernen, wie sie das unter Kontrolle kriegen können.

Sorry, wenn ich da mit viel Wucht daher komme. Ich sag' schon, was ich denke. Aber ich bin kein Unmensch und ich weiß, dass es Grenzen gibt, dass Menschen nicht endlich mit Forderungen zugeschüttet werden dürfen, wenn sie eh schon völlig überfordert sind. Ich verstehe, wie es den Menschen geht, aber ich hoffe auch, dass sie mal an den Punkt kommen, wo sie sich nicht mehr eingeschüchtert fühlen oder einschüchtern lassen, sondern da mal rausfinden.

Es ist ganz klar: Jeder Mensch ist anders, jeder hat seine eigenen Erfahrungen, seinen eigenen Bausatz, sein eigenes Strickmuster, es wäre dumm, von jedem Menschen, immer, in jeder Situation genau die gleiche Leistung zu fordern. Alles über einen Kamm scheren ist dumm und nie angebracht. Das weiß ich auch.

Der Regenwurm wünscht Dir was!

:-)

PS Weißt Du, es wird nie jemand kommen, der Euch eine Erlaubnis erteilt, dies oder jenes zu tun. Erwachsene Menschen entscheiden selbst und deshalb kommt niemand auf die Idee, dass Ihr drauf wartet, ein Signal zu bekommen, dass ihr was tun dürft oder nicht. Ihr müsst Euch dafür entscheiden oder dagegen. Es ist Euer Ding, für Euch zu entscheiden.

Und wenn Dich der Text hier sehr antriggert, was ich denke, dann würde ich mich an Deiner Stelle jetzt wirklich mit Skills da rausholen. Ob Skills greifen oder nicht, ist ja auch immer offen, man kann sie nur trainieren und hoffen, dass es klappt.

Durch die Skills sollte es jedoch so sein, dass dieser Text nicht mehr die Wucht hat und weniger antriggert. Das wäre der Schritt in die richtige Richtung, wo man anfängt, Stabilität aufzubauen, bis man eines Tages dann auch sich richtig wehren kann, gezielt was für sich tun kann, wo es nicht mehr nur Aushalten ist, sondern das Leben bewusst gestaltet wird.
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