Mein 20-Löffel-Experiment basierend auf "The Spoon Theory"
#1
Hallo,

vor einiger Zeit bin ich auf einem englischsprachigen Forum auf eine Geschichte einer Frau mit der Erkrankung Lupus gestoßen. Ihr Name ist Christine Miserandino und sie hat – wie ich finde – einen sehr eindrucksvollen und hilfreichen Weg gefunden, Menschen zu vermitteln, wie sich das Leben mit einer nicht sichtbaren, chronischen Erkrankung, die sehr viel Kraft/Energie, Bewusstsein, Selbstfürsorge und Planung erfordert, oft gestaltet.

Die Geschichte ist im Original (Englisch) hier zu finden (und darf leider nicht anderswo gepostet bzw. veröffentlicht werden; eine deutsche Übersetzung gibt es bisher auch noch nicht): http://www.butyoudontlooksick.com/wpres ... on-theory/

Für mich ist es so, dass ich oft auf Menschen treffe, die teilweise sehr bemüht sind, mich und mein Leben mit PTBS zu verstehen, denen es aber trotzdem nicht gelingt. Für mich ist dabei der Kraft/Energie-Aspekt ganz zentral. Für Dinge, die für viele Menschen ganz normal sind (wie z. B. früh aufzustehen, mit dem Bus zu fahren, gut zu schlafen) brauche ich wahnsinnig viel Kraft/Energie und teilweise auch gute Planung.

Ich schlafe fast jede Nacht schlecht, wälze mich im Bett herum, wache oft auf, habe manchmal schlimme Träume. Ich bekomme also nachts keine wirkliche, bzw. nur sehr begrenzt, Erholung. Wenn ich mit dem Bus fahre, bekomme ich manchmal Ängste (früher auch oft Panikattacken, heute ganz selten). Mir machen viele Menschen Stress – und das „aneinander Kleben“, wenn der Bus fast schon überfüllt ist, erst recht. Um meinen Stresslevel so niedrig wie möglich zu halten, plane ich viel. Das bedeutet z. B. auch, dass ich Termine möglichst so lege, dass ich nicht zur Rush Hour quer durch die Stadt fahre, oder gleich alles erledige, was ich erledigen muss, so dass ich mich den Ängsten unter Menschen nur ein Mal stellen muss – denn Ängste auszuhalten (z. B. während der Busfahrt oder beim Einkaufen), kostet ja auch wieder viel Kraft und Energie. Dann muss ich Pausen einplanen, z. B. nach einem Besuch bei meinem Patenkind, dessen Vater mich massiv stresst und manchmal auch triggert, nehme ich noch zwei Tage frei, um einfach allein zu sein und die Nachwirkungen ohne weitere Belastungen durchzuleben, so dass sie dann „weg“, also verarbeitet sind. Eins meiner, wie ich finde schlimmsten Symptome der PBTS ist, dass ich komplexere Situationen nicht zeitgleich verarbeiten („verstoffwechseln“) kann. Mit „komplexere Situationen“ meine ich das, was im Kontakt mit Menschen abläuft, im Außen (ich muss agieren, reagieren) und im Innen (emotional, Stress/Trigger, evtl. auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig (z. B. mit dem Vater meines Patenkindes als solchen (Vater), aber auch als Witwer meiner Freundin, als meinen einzigen Kontakt zum Kind, etc.).

Die alltäglichen Dinge (Besuche bei Bekannten, Busfahren, schlafen) sind Dinge, die für einen gesunden Mensch normalerweise problemlos sind. Mich kosten sie viel Kraft/Energie, die ich an anderer Stelle leider auch nicht mehr in der Menge, wie ich es bräuchte, rein bekomme... ich würde mich beschreiben wie einen Handyakku, der schon alt ist, und, egal, wie lange ich ihn auflade, einfach nicht mehr voll wird und oft auch nicht mehr nur halbvoll.

Um jemand anderes verständlich zu machen, wie man selbst sein Leben (er)lebt, zu vermitteln, wie viel Energie man für „normale“ Dinge braucht und wie wenig Energie man hat – dazu kann die „Löffel-Theorie“ von Christine helfen. Bei der „Löffel-Theorie“ stehen die Löffel für die Kraft/Energie, die man für die Dinge, die man an einem Tag so tut.

Ich habe das Ganze für mich als „Mein 20-Löffel-Experiment“ aufgeschrieben. Ich denke, jeder, der dieses „Experiment“ mit jemand anders durchführt, muss es sich selbst und seiner eigenen Situation anpassen. Der eine hat vielleicht nur 10 Löffel an einem durchschnittlichen Tag zur Verfügung, der andere 15 oder 25. Bei mir variiert die Anzahl an „Löffeln“, die ich zur Verfügung habe – je nachdem, wie viel in meinem Leben gerade passiert, mit wie vielen „Löffeln“ ich in einen Tag starte, wie viel Stress (im Innen und Außen) aktuell dazu kommt und welche Symptome gerade vorherrschen und wie stark.

Hier ein für mich ein Auszug aus einem für mich durchschnittlichen Tag:

Mein 20-Löffel-Experiment mit Anna

Anna ist eine Freundin, die ich noch nicht so lange kenne, aber mit der ich mich sehr gut verstehe. Sie weiß, dass ich traumatische Erfahrungen gemacht und PTBS habe. Trotzdem kann sie sich nicht „richtig“ in mich und mein Leben mit meiner PTBS hineinversetzen. Manchmal ist sie enttäuscht, dass ich z. B. zu gewissen Unternehmungen nicht mitkomme und dass sie mich weniger sieht, als sie möchte (weil ich viel Zeit brauche, mich immer wieder zu erholen, Abstand zu bekommen, Dinge zu verarbeiten, etc.. Ich habe Anna gefragt, ob sie bereit dazu wäre, sich auf ein kleines Experiment einzulassen und sie sagte ja. Für manche Leute ist es wichtig zu wissen, dass bei diesem Experiment nicht Schlimmes passiert, es nur darum geht, 20 Löffel in die Hände zu nehmen und sich gedanklich von mir durch einen Tag führen zu lassen.

Anna ist da und wir setzen uns gegenüber voneinander hin. Ich gebe ihr 20 kleine Löffel in die Hände.

Ich bitte sie, die Löffel zu zählen. Wenn sie fragt, warum, erkläre ich ihr, dass die Löffel für die Kraft/Energie stehen, die ich über den Tag zur Verfügung habe und erkläre, dass ich mit meiner Kraft/Energie sehr bewusst umgehen muss, damit ich die Dinge, die ich an einem Tag so erledigen muss, auch wirklich schaffe.

Ich frage Anna dann, was sie an einem normalen Tag so macht. Wenn Anna direkt eine ganze Liste an Dingen nennt und Aufwachen und Aufstehen nicht dabei sind, unterbreche ich sie und sage, dass sie am Morgen erst einmal aufwachen und aufstehen muss. Wenn sie das bestätigt, nehme ich ihr einen Löffel aus den Händen. Ich nehme ihn ihr einfach weg, auch wenn sie die Löffel ganz festhält – bitten tue ich sie nicht (weil meine PTBS mich auch nicht fragt, ob ich die Kraft/Energie gerade aufwenden will oder nicht, sie verlangt sie einfach von mir).

Dabei erzähle ich ihr dann (von mir aus gehend) etwas wie: „Nein, du wachst früh nicht einfach auf und bist wach. Obwohl in der Nacht vorher um 23 Uhr ins Bett gegangen bist, konntest du leider erst um 2 Uhr einschlafen. Während der Nacht hattest du dann Albträume, hast dich hin- und hergewälzt und bist irgendwann mit Panik und Herzrasen aufgewacht. Als dann der Wecker klingelt, bist du total gerädert und erschöpft.“ Ich nehme Anna jetzt wieder einen Löffel weg und rede weiter: „Deine Augen gehen nicht richtig auf und dir alles weh. Du driftest immer wieder kurz weg, weißt aber, du musst aufstehen, weil du pünktlich in der Arbeit sein musst. Nach einer halben Stunde stehst du auf.“

Dann frage ich Anna, was sie nach dem Aufstehen als nächstes macht. Ist die Antwort z. B. „duschen“, sage ich zu ihr: „Du duschst also und ziehst dich danach an.“ Dabei nehme ich ihr wieder einen Löffel weg.

Von Anna kommt dann etwas wie: „Dann gehe ich in die Küche und mache mir Frühstück.“ Da nehme ich Anna zwei Löffel auf einmal weg und erkläre: „Das klappt leider nicht. Du bist mittlerweile schon zu spät dran, hast keine Zeit mehr für Frühstück, sonst kommst du zu spät ins Büro. Du musst jetzt schnell deine Sachen schnappen und zum Bus rennen."

Wenn das Gegenüber mehrmals erlebt hat, dass man selbst ihm vermeintlich „einfach so“, also ohne zu fragen oder zu bitten, Löffel wegnimmt, kommt es oft irgendwann zu einer Reaktion darauf. Zum Beispiel wird das Gegenüber langsam verärgert, fühlt sich hilflos oder ähnliches. Das ist bei Anna jetzt der Fall. Sie sagt zum Beispiel: „Aber ich muss doch was essen und einen Kaffee brauche ich auch!“ Ich sage dann etwas wie: „Du kannst nicht zu spät ins Büro kommen. Das bist du schon zwei Mal die Woche. Kaffee und was zu essen kannst du dir unterwegs kaufen.“

So geht das Experiment weiter durch den Tag. Z. B. gehe ich dann zum Bus, der um die Uhrzeit rappelvoll ist. Für die Busfahrt nehme ich Anna dann einen Löffel ab – weil ich bei vollem Bus gestresst werde, eng an eng mit anderen Menschen stehen muss und mir das Angst macht. Wenn eine Kindergartengruppe mit im Bus ist, wird es außerdem noch laut und ich gerate (nach einer solchen Nacht wie beschrieben) schnell an meine Grenzen. Dann nehme ich Anna vielleicht noch einen Löffel extra weg.

Irgendwann – bei mir meist vor oder spätestens mit Ende des Arbeitstages -gehen Anna dann die Löffel aus, wie mir die Kraft/Energie. Oft kommen dann Reaktionen wie: „Aber ich habe donnerstags doch noch meinen Spanischkurs bei der VHS!“ Und dann reagiere ich darauf mit etwas wie: „Dann kannst du da heute nicht hingehen. Du kannst keine Kraft mehr übrig. Jetzt musst du erst mal etwas für dich tun, um wieder Löffel zu bekommen. Zum Beispiel mache ich meistens nach einem Arbeitstag erst mal mehrere Stunden Pause. Da sitze ich einfach nur und lasse alle Gedanken kommen, die sich über den Tag so angesammelt haben. Trinke einen Tee oder liege einfach nur erschöpft auf der Couch. Nach ein paar Stunden habe ich dann wieder einen oder zwei Löffel.“ Ich gebe Anna zwei Löffel und sage weiter: „Jetzt ist es 19 Uhr. Was würdest du jetzt am liebsten tun?“

Oft überlegt dann das Gegenüber, weil es die Bedeutung der Löffel verstanden hat und weil klar geworden ist, wie wertvoll jeder einzelne davon ist. Während Anna überlegt, nehme ich Anna einen Löffel wieder weg und erkläre: „Dir ist gerade wieder eingefallen, dass du vergessen hast, einkaufen zu gehen. Jetzt musst du noch schnell zum Supermarkt laufen, sonst hast du morgen kein Duschgel.“

Anna hat jetzt noch einen Löffel in der Hand. Wenn sie mir dann sehr betroffen erscheint, sage ich: „Ich würde diesen einen Löffel jetzt „sparen“. Manchmal brauche ich „Extra-Löffel“, z. B. für einen Zahnarzttermin oder eine Party. Da möchte ich die Freundin, die mich einlädt, nicht enttäuschen und kommen und mitfeiern... und das geht nur mit genug Kraft und Energie.“

Je nachdem, wie gut ich mein Gegenüber kenne und wie sehr ich ihm vertraue, erzähle ich mehr oder weniger detailliert, wie die jeweilige Situation ist, die mich Löffel kosten. Man kann das Experiment also auch mit Menschen machen, die einem nicht so nah sind. Dann kann man z. B. sagen „ich habe schlecht geschlafen“ anstatt „ich hatte Albträume, habe mich hin-und hergewälzt, etc.“ Meine Erfahrung ist, dass Menschen aber oft ihre eigenen Definitionen von den Wörtern haben, die sie benutzen, d. h. jeder Mensch schläft mal schlecht, auch gesunde Menschen. Meine Erfahrung ist: Je deutlicher ich werde, desto klarer wird meine Situation meinem Gegenüber.

Was bei manchen Menschen auch hilft, ist eine Analogie. Wenn jemand immer weniger Löffel in den Händen hält, meine Situation aber noch nicht begreift, hilft es oft, einen Vergleich zu finden. Man könnte z. B. erklären, dass es sich mit Löffeln verhält wie mit Geld: Wenn ich 20 Euro habe, kann ich nur die 20 Euro ausgeben. Sind sie weg, habe ich nichts mehr übrig. In Ausnahmefällen kann ich mir Geld leihen – aber das muss ich natürlich zurückzahlen. Und so kann ich eben auch Geld ansparen, um mir irgendwann vielleicht etwas zu kaufen, was 30 Euro kostet.

Ich weiß von einigen Menschen, die das Löffel-Experiment auch mit ihren Therapeuten (Traumatherapie) gemacht haben. Deren Therapeuten hatten vorher auch einen eher theoretischen Einblick in das Leben dieser Menschen... und das Experiment hat ihnen geholfen, „richtig“ zu verstehen.

Vielleicht kann dem/der einen oder anderen von euch das Experiment auch helfen, eure Situation z. B. einem geliebten Menschen verständlicher zu machen. :)
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#2
Danke!!
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#3
das klingt interessant. allerdings braucht man - glaube ich - wirklich ein geduldiges und interessiertes gegenüber. es kann leicht auch passieren dass das gegenüber sofort hinterfragt warum man denn nix dagegen tut dass man ständig einen löffel abgeben muss befürchte ich. also gerade im job kann man da leicht in die schiene "nicht belastbar" kommen.

oder sehe ich das zu kritisch?

*nachdenklich* *weisnet*

lg
amy
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#4
Ich finde die Idee sehr eindrucksvoll, aber als ich es gelesen habe kam mir auch, dass damit sicher nicht alle Menschen umgehen können würden. Ich habe meine thera mal gefragt wem ich von meiner Traumatisierung erzählen kann, weil es mir auch so wichtig ist dass man mich versteht und wie viel ich leiste. Sie hat mir geraten, damit sehr vorsichtig zu sein, und es nur engen Freunden zu sagen bei denen ich das Gefühl habe sie können wirklich damit umgehen. Ich denke dass bei dem Löffelexperiment wohl viele Menschen extrem schockiert und betroffen wären und vllt Angst vor weiterem Kontakt hätten. Nicht weil sie einen nicht mehr mögen sondern weil sie dann bei Kontakt (wenn sie emphatisch sind) vllt auch diese schlimmen Gefühle durchleben müssen. Ich will das Experiment auf keinen Fall schlecht machen, ich möchte nur warnen, dass das auch nach hinten losgehen kann, eben weil es ein so gutes und kraftvolles Experiment ist das sehr deutlich zeigt wie schlimm PTBS ist. Wir sind stärker als viele andere Menschen! Du bist stärker als viele andere Menschen!

Alles Liebe
Free

PS meine thera sagte auch, dass Leute mich nicht mehr als sonst mögen werden wenn sie von meinem Trauma wissen, dass sie mich wenn sie es nicht wissen genauso mögen. Das war für mich ein sehr wichtiger Punkt, ich bin mir nicht sicher ob er auch bei dir passt *verschaemt2*
Nichts ist so stark wie die Sanftheit und nichts ist so sanft wie echte Stärke. (Ralph W. Sockmann)
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#5
hallo Lio,

vielen Dank
ich hab's jetzt verstanden

lg
just me *danke*
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#6
Also, schief gehen kann so was immer, weil es immer mit dem Gegenüber zu tun hat, wie offen ist er/sie, warum ist er/sie dafür offen (also was ist die Motivation, so genau hinzuschauen), wie viel sage ich, stelle ich danach fest, für die/den war es zu viel usw. Ich denke, das ist mit allen Sachen so.

Ich persönlich würde das nur mit mir sehr engen Menschen machen und ich würde mich sehr gut vorbereiten. Das heißt, wenn ich aus irgendwelchen Gründen das Ganze mit einer Kollegin machen würde, bei der ich entscheide, dass ich es möchte und ihr genug vertraue, dann würde ich das vorher durchspielen und auch ganz klar sagen, wenn ich Fragen nicht beantworten will. So mache ich das auch mit der Stress-Tasse in der Arbeit in Kürze. Die wissen auch keine Diagnosen und werden auch keine erfahren. Aber ich möchte gern, dass sie verstehen, dass mich Stress krank macht und wie er sich auswirkt. Fragen sie nach Diagnosen oder Dingen, die ich nicht sagen will, sage ich sie nicht. Mache ich im Alltag auch so, geht doch keinen was an.

Ein interessiertes Gegenüber braucht man auf jeden Fall. Wenn das Gegenüber mich dann angreift (warum ich denn nichts gegen "die Löffelabgabe" mache, kann ich meine Situation erklären oder aber nichts mehr sagen. In meinem Fall würde ich vielleicht sagen, dass ich alles getan habe, was ich konnte, und dass meine Erkrankung eben chronisch ist, d. h. nicht mehr besser wird als sie ist. Nach meiner und nach ärztlicher Meinung. Das ist doch einfach Realität. Nur, weil mich jemand angreift, lasse ich mich noch lang nicht angreifen, heißt, steige ich nicht drauf ein. Für mich wäre es so, wenn ich merken würde, jemand nutzt dieses Angebot von mir und reagiert mit Unverständnis oder Angriff, dann würde ich es einfach registrieren und das Experiment da auch beenden. Wieso sollte ich jemandem weiter Einblick gewähren wollen, wenn der so reagiert?

Also, ist das ein Risiko? Ja. Man sollte sich gut auswählen, mit wem man das macht, weil man etwas preisgibt. Diese Sache ist einfach nur ein gutes Mittel, wenn es jemanden gibt, der gern verstehen möchte und von dem man selbst sich wünscht, dass er/sie es versteht. Vertrauen ist immer Risiko.
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#7
Free, ich wollte gern noch zu dem sagen, was du geschrieben hast, dass ich keinerlei Erwartung habe an das Experiment. Ich mache das mit jemandem, wenn ich möchte, dass derjenige einen tieferen Einblick bekommt, wenn ich entschieden habe, dass ich das Risiko, mehr von mir zu zeigen, eingehen möchte und kann und wenn der andere auch wirklich interessiert ist an mir, Lio. Das schließt schon mal 99,9% der Menschheit aus...

Ich habe für mich vor langer Zeit entschieden, authentisch leben zu wollen. Für mich gehört da dazu, dass ich Menschen auch nah an mich lasse. Bestimmte, ausgewählte einzelne Menschen. Hat es seitdem einige gegeben, mit denen das schief ging? Ja. Hat es welche gegeben, mit denen das gut ging? Ja. Die letzeren sind es, die für mich zählen.

Dieses Experiment ist nur eins: ein Vorschlag, wie jemand versuchen kann, jemandem seine Situation zu vermitteln, wenn er das möchte. Nicht mehr und nicht weniger.
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#8
Amy, ja, ich denke, das kann besonders im nicht privaten Bereich nach hinten losgehen. Oder ich sage es lieber so. Wenn ich vermitteln will, dass ich nicht belastbar bin, kann ich das so tun. Ich persönlich bin ja tatsächlich wenig belastbar. Und das Beispiel hier mit "Anna" ist, was meine Seite angeht, real so. Also vermittele ich Anna etwas, das ich ihr auch vermitteln will. Und insofern läuft ja alles richtig.

Noch mal an alle: Das hier ist ja *mein* Leben mit PTBS. Jede würde ja ihr eigenes Leben, ihre eigene Symptomatik etc. vermitteln. Und jede kann steuern, wie viel davon sie vermittelt.

Christine schreibt im englischen Original, dass sie sich auch manchmal zurückgenommen hat und bestimmte Dinge über ihre Erkrankungen nicht erzählt hat - um nicht zu verschrecken. Ich würde das genau so machen. Das meinte ich auch mit dem, dass jede sich das Experiment anpassen muss und kann.
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#9
Das klingt alles sehr reflektiert was du schreibst Lio, ich finde du sorgst richtig gut für dich und habe echt Respekt davor wie stark du dich für dich einsetzen kannst und wie du dich nicht angreifen läßt. Das ist eine Riesenleistung, Hut ab!
Und ich freue mich sehr für dich dass du auch Menschen gefunden hast mit denen "es gut ging", und ich verstehe absolut, dass die wirklich zählen. Ich hoffe ich finde solche Leute auch noch im realen Leben. Zum Glück hab ich schon euch hier.
Nichts ist so stark wie die Sanftheit und nichts ist so sanft wie echte Stärke. (Ralph W. Sockmann)
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#10
Danke Lio, das war wunderschoen und tut mir selbst nochmal gut mir selbst gegenueber Verstaendnis aufzubringen.

Liebe Gruesse,
Yuloa
Freiheit ist, was du mit dem tust, was dir angetan wird. - Jean-Paul Sartre
Mitten im Winter bemerkte ich schliesslich, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gab. - Albert Camus
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#11
Liebe Lio,

ich habe das Original jetzt gelesen. Christine schreibt von ihrer "besten Freundin" - und da kann ich mir sehr gut vorstellen dass das funktioniert. Dann ist auch klar dass es sogar impliziert ist dass die Botschaft ist: ich bin nicht so belastbar. Diese Freundin zeigte aber von sich aus sehr viel Initiative und wollte sehr viel wissen - das wollen nicht alle und ertragen nicht alle. Umso schöner wenn Du in Deinem Umfeld solche Menschen hast. :)

Das Problem ist glaube ich dass viele von uns "bei den Normalos" mitspielen. Und anstatt ein "wow, trotz allem bekommen die das meiste gut hin" stösst man oft auf ein "was ist denn mit der manchmal los?". Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Ich freue mich für Dich wenn Du Menschen hast die das "dahinter" auch wirklich so interessiert.

lg
Amy
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#12
@Free: Danke. Ich freu mich auch, dass ich solche Leute im realen Leben heute habe. Das war lange nicht so und hat tatsächlich Jahrzehnte gedauert und viel Arbeit (Therapie und Veränderung in mir) erfordert. Ich möchte auch noch mal sagen, dass das sehr wenige sind und dass ich auch meine Therapeutin dazu zähle.

Mut möchte ich dir auch noch machen, weiter nach denen zu suchen, bis du sie gefunden hast. Mit meiner Therapeutin ging es öfter genau hierum und einmal war ich wirklich enttäuscht und erschöpft vom Suchen sozusagen und meinte, mehr als lauten Gedanken: "Es gibt nicht viele [solcher Menschen]..." Und sie meinte: "Ja, es gibt nicht viele." Damals tat mir das sehr weh, in der Situation, weil es mich erst mal noch mehr enttäuscht hat. Aber dann habe ich das Ganze mal "umgedreht". Der Satz bedeutet nämlich auch, dass es welche gibt! Und dass wenn meine Therapeutin welche in ihrem Leben hat und ich selbst auch, dass es da auch noch mehr gibt. :)
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#13
@Yuloa: Das freut mich sehr, dass du das so erlebt hast, wie du schreibst. :)

Mir ging es damals, als ich das Original das erste Mal gelesen hatte, ähnlich wie dir. Dann im Kopf mal zu formulieren, wie ich so ein Gespräch führen würde, hat mir dann auch noch mal einen tiefen Einblick in mich selbst gegeben und Verständnis und Mitgefühl für mich selbst. Empathie mit mir selbst zu haben, dadurch Verständnis und Mitgefühl mit mir zu entwickeln, ist für mich eine ganz wichtige Sache auf dem Weg.
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#14
Amy schrieb:Diese Freundin zeigte aber von sich aus sehr viel Initiative und wollte sehr viel wissen - das wollen nicht alle und ertragen nicht alle.

Ja, das wollen und ertragen nicht alle... Ich habe früher ganz schnell (weil ich z. B. schon nach zwei Stunden das Gefühl hatte, mein Gegenüber und ich wären super Freunde ("Freund" hat für mich heute eine ganz andere Definition)) viel von mir erzählt (Traumazeugs) - und dadurch viele Menschen verloren. Und ich habe auch langjährigen Freunden irgendwann mehr erzählt und die einen waren weg, die anderen noch da, aber plötzlich distanziert und wieder andere ganz weg. Das tut jedes Mal sehr weh... andererseits weiß ich nicht, wie man zu einer Beziehung kommen soll, in der auch solche Dinge wie meine Geschichte (nicht im Detail!) bzw. ich heute, mit allem, was mich ausmacht, Platz haben, wenn man nicht irgendwann auch "tiefer geht" und mehr aufmacht und damit das Risiko der Ablehnung auch eingeht. Niemand muss das machen, ich spreche keine von euch an... aus meiner Erfahrung heraus kann ich nur sagen, dass ich genau so diese Menschen, die heute da sind, gefunden habe.

Amy schrieb:Das Problem ist glaube ich dass viele von uns "bei den Normalos" mitspielen. Und anstatt ein "wow, trotz allem bekommen die das meiste gut hin" stösst man oft auf ein "was ist denn mit der manchmal los?". Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Das klingt für mich so, als ob ich nicht bei den Normalos mitspielen würde - das ist nicht so. Die Gratwanderung habe ich jeden Tag auch, nur ist es *heute* so, dass ich *wenige* Leute habe, die auch anders sind. Und ich glaube, dass die auch Normalos sind, aber dass sich über die Zeit die Beziehung so gefestigt hat und tiefer geworden ist und dass sich dadurch auch das Interesse am anderen geändert hat und tiefer geworden ist. Und ich rede auch nicht mit den mir sehr nahen Menschen dauernd über Schlimmes oder über Symptome etc. Das hält meiner Ansicht nach keine gesunde Beziehung aus, außer eine professionelle.

Amy schrieb:Ich freue mich für Dich wenn Du Menschen hast die das "dahinter" auch wirklich so interessiert.

Danke, ich mich auch. :) Und ich wünsche jedem diese Erfahrung. Ich erlebe sie als heilsam.

LG,

Lio
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#15
Danke Lio,
für die Erklärungen zu Deinem Experiment. Für mich ist es besonders wertvoll, weil mir nochmal deutlich wird, dass ich über den Alkohol mir die Energie "ausleihe", die mir ansonsten fehlen würde, um sozial zu interagieren, um emotional schwierige Situationen zu meistern, oder einfach um mal auszuspannen.
Nur dass man diese Form der Energie in den nächsten Tagen wieder zurückzahlt - Ich starte nicht mehr mit 20 Löffeln, sondern nur noch mit 10 im Extremfall.

Ein Energiehaushaltsbuch wäre für mich eine gute Idee; ein Zahnarztbesuch kostet mich nämlich (wegen Angstphobie) nicht 1 oder 2 Löffel, sondern 15.
So eine Art "Energy-Watchers-Punktesystem". Ich habe schon mehr Einblick gewonnen, was mich stresst und was nicht so, was mir Pufferverschafft und was die Energiebilanz erhöht. Aber mehr so im Ungefähren.

Ich werde Deine Erklärungen dazu mal in meinem Tagebuch aufgreifen und versuchen, sie für mich konkret umzusetzen.

Mir fallen fünf Menschen ein, die soweit mit mir auf einer Wellenlänge sind und wo das Vertrauen stabil ist, um auch praktisch mal mitzumachen, was Du beschrieben hast.
Um "Ungläubige" oder "Nichtverstehende" zu illuminieren, taugt es für mich wenig, es sei denn, sie wären mir völlig fremd und damit relativ egal.

Jedenfalls wird mich Dein Vorschlag eine Zeit begleiten, und ich versuche etwas daraus zu machen für mich.

*danke*
Conny
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