Sachbuch: Die Wissenschaftslüge
#1
Wieso Homöopathen nicht besser als Pharmakonzerne sind

Der Arzt und Journalist Ben Goldacre kritisiert Pharmaindustrie und Alternativmedizin gleichermaßen. Jetzt ist aus seiner Kolumne im britischen "Guardian" ein Buch entstanden. Im Interview spricht er über die Tricks der Mediziner und sagt, was sich ändern muss.
Ben Goldacre arbeitet als Arzt für die englische Gesundheitsbehörde und ist Psychiater. Seine Zeitungskolumne im Guardian und die Website badscience.net nehmen aktuelle Medizinprobleme aufs Korn. Das Buch, das daraus entstand, ist in England ein Bestseller. "Die Wissenschaftslüge" ist am 18. Januar auf deutsch erschienen. (Fischer Taschenbuch Verlag, 420 Seiten, 9,95 Euro)

Herr Goldacre, inwiefern lügt die Wissenschaft?
Wissenschaftliche Veröffentlichungen sollen zeigen, ob ein Mittel wirkt oder nicht. Aber die Darstellung ist oft irreführend. In der Medizin entscheidet man, ob man ein Medikament gibt, aufgrund der verfügbaren Daten. Sind diese Daten unvollständig und einseitig, dann ist die Entscheidung, die der Arzt trifft, falsch. Er wählt das falsche Medikament und das kann ernste Konsequenzen haben - bis hin zum Tod. Es fällt vielen schwer, dazu eine adäquate emotionale Reaktion zu entwickeln, denn das Verdrehen von statistischen Daten passiert in einer sehr trockenen, statistischen Art und Weise.

Meinen Sie, die Pharmafirmen verfälschen die Daten in böser Absicht?
Aber ja. Die Pharmaindustrie ist böse. Sie unterdrückt unvorteilhafte Informationen. Wenn Sie zehn Tests mit einem Medikament machen und davon nur zwei zu dem Ergebnis kommen, dass es wirksam ist, werden nur die zwei veröffentlicht. Das ist in bösartiger Weise irreführend.

Wie lässt sich das verhindern?
Die Lösung ist so technisch wie das Problem: ein Register, in das jede klinische Studie eingetragen werden muss. Wenn man vor Beginn der Studie angeben muss, was man wie testet, welche Parameter gemessen werden, wie viele Testpersonen mitmachen und wann die Studie beendet sein wird, können sie nachschauen: Was ist aus Studie Nummer 24.572 geworden? Dann könnte man keine unliebsamen Resultate still unter den Tisch fallen lassen. 2005 haben viele medizinische Zeitschriften versprochen, nur noch die Ergebnisse von Studien zu veröffentlichen, die vorher registriert wurden. Aber das geschah sehr halbherzig, weniger als die Hälfte war registriert.

Zwei Krebsforscher haben geprüft, was aus 2028 Studien geworden ist, die die US-Gesundheitsbehörde auf clincaltrials.gov bis 2007 registrierte: 17,6 Prozent wurden veröffentlicht; bei Studien von Pharmafirmen waren es 5,9 Prozent.
Und wir werden nie erfahren, was bei restlichen 94 Prozent der klinischen Studien herausgekommen ist. Schlimmer als kein Register für klinische Studien zu haben, ist die Illusion, eines zu haben. Manche glauben, das Problem sei gelöst, die Leute sind beruhigt und kümmern sich nicht weiter. Dabei geht es in der Medizin um Leben und Tod.

Können Sie ein Beispiel geben?
Sie verschreiben ein Medikament aufgrund irreführender Zahlen und retten am Ende nur 1,8 statt 2 Millionen Leben. Die 200.000, die unnötig gestorben sind, können sie nicht finden. Es ist nur Statistik. Es gibt keinen Agatha-Christy-Moment; es läuft kein Mörder herum. Sie können auch keinen Menschen finden, von dem sie sagen können: Er ist gestorben aufgrund einer unpassenden Verschreibungsentscheidung aufgrund einer großen Masse ungeeigneter Evidenz. Das ist so böse daran.

In Ihrem Buch kommt die Alternativmedizin nicht besser weg. Warum?
Viele Menschen entwickeln eine kindische Haltung: Die Pharmaindustrie ist böse, also lasse ich mein Kind nicht impfen. Die Pharmaindustrie ist böse, deshalb nimm lieber Vitaminpillen oder geh zum Homöopathen. Nur weil "Big Pharma" böse ist, heißt das noch nicht, dass Zuckerpillen wirken. Die evidenzbasierte Medizin hat Millionen Leben gerettet.

Gibt es keine seriösen Daten darüber, ob Methoden wie die Homöopathie wirken?
Ich nenne die Argumente für Homöopathie Zombie-Argumente. Sie wurden schon tausendmal widerlegt, und trotzdem stehen sie wieder auf und laufen weiter. Nach dem Motto: In der Studie wirkt es kein Deut besser als Placebo, aber bei mir hat es geholfen, also muss doch etwas dran sein. Ein Placebo hat ja auch eine Wirkung.

Warum fallen vernünftige Menschen auf so etwas herein?
Menschen, die zu Alternativheilern gehen, haben negative Erfahrungen mit der Schulmedizin gemacht. Sie hatten ein medizinisches Problem, das nicht behoben werden konnte oder sie haben bei einer Behandlung Nebenwirkungen erlebt. Natürlich haben Mittel, die eine Wirkung haben, auch Nebenwirkungen. Das erklärt, warum so vieles in der Alternativmedizin die Schulmedizin angreift. Deshalb reiten Alternativmediziner darauf herum, wie schädlich Chemotherapie ist oder Impfungen und wie gefährlich Medikamente allgemein. Damit ködern sie Kunden.

Wie finde ich seriöse Belege über eine Behandlung?
Das ist extrem schwierig. Na ja, manchmal. Wenn es zu gut klingt, um wahr zu sein, ist es wahrscheinlich nicht wahr. Wird es von der Schulmedizin nicht zur Kenntnis oder ernst genommen, funktioniert es vermutlich nicht besser als Placebo. So ist das mit der Homöopathie. Aber wenn Sie gerne ein Placebo nehmen - das ist doch prima. Ich glaube nicht, dass es hier wirklich ein Informationsdefizit gibt. Die meisten Menschen wissen im Grunde ihres Herzens: Käme es zu einer klinischen Studie von homöopathischen Globuli gegen Placebo-Pillen, würden sie genau gleich gut abschneiden. Menschen bauen sich selbst Mauern auf, die sie vor dieser Erkenntnis schützen. Sie sagen Dinge wie: 'Globuli haben spezielle Eigenschaften, weswegen es gar nicht möglich ist, sie wie andere Medikamente zu testen.' Wie das? Man kann Lernmethoden in der Schule testen, Erziehungsprogramme, Ernährungsstile - ganz einfach mit einer vergleichenden Studie: Man vergleicht eine Gruppe von Menschen, die eine bestimmte Sache macht mit einer anderen Gruppe, die sie nicht macht. Da gibt es kein Voodoo, das ist transparent und einfach. Aber Alternativmediziner reden sich immer heraus.

Trotzdem beschreiben Sie auch ein Informationsdefizit. Welche Informationen fehlen uns?
Das Problem ist nicht die Datenlage oder Information. Der Glaube an alternative Methoden gehorcht nicht den Regeln des normalen Für-Richtig-Haltens, ist nicht widerlegbar. Man kann Menschen nicht mit Vernunft aus einer Position herausbekommen, in die sie nicht mit Vernunft hineingeraten sind. Ein Informationsdefizit gibt es eher bei Medikamenten wie Antidepressiva (SSRI).

Was wurde uns verheimlicht?
Die Daten über die Nebenwirkungen und die Studien, die zeigten, dass diese Mittel nicht sehr effektiv sind. Die Botschaft des Buches ist, dass sowohl die Pharmaindustrie wie auch die alternativmedizinische Industrie sich der identischen Tricks bedienen. Die Homöopathie-Industrie und die Vitaminpillenindustrie und die Pharmaindustrie: Sie alle verstecken Daten, die sie nicht mögen. Das finden die Alternativtherapeuten so verwirrend an mir, dass ich gegen so ziemlich alle und jeden bin: Ich entlarve die Alternativmedizin, ich entlarve die Quacksalber, ich entlarve die Journalisten. Ich glaube, die sind alle gleich schlecht.

Lösungsvorschläge wären schön. Kommt das im nächsten Buch?
Ja. Für das neue Buch arbeite ich mit einer großen Gruppe von Ärzten, denn viele Probleme in der Pharmaindustrie haben mit Zulassungsbestimmungen zu tun. Deshalb brauchen wir Spezialisten, die die Bestimmungen in jedem Land wirklich verstehen. Das Buch ist praktisch fertig. In jedem Kapitel gibt es Vorschläge, was zu tun ist: Wenn man Arzt ist, Patient, Gesetzgeber oder eine Fachzeitschrift. Der Arbeitstitel ist 'Drug company bullshit', aber ich möchte, dass konservative 50-jährige Ärzte es kaufen, deshalb kann ich 'bullshit' nicht auf dem Titel haben. Wenn Sie einen besseren wissen, schreiben Sie ihn mir bitte - das wäre wirklich phantastisch.

Quelle: Stern.de
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#2
Studien hin oder her, es ist auch egal was veröffentlicht wird.

Viele Studien werden durch praktizierende Ärzte unterstützt was aussieht wie folgt:

Der Arzt bekommt einen mehrseitigen Fragebogen für einen betroffenen Patienten und schickt diesen dann ausgefüllt an die entsprechende Stelle zurück. Je nach Studie erhalten die Ärzte dafür zwischen 50 - 2000 Euro pro eingesandten Fragebogen. Diese werden dann mal schnell, wenn es geht in Massen, nach Praxisschluss ausgefüllt! Es ist fraglich wie genau tatsächlich die Informationen der Ärzte sind.

LG
Sylvia
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#3
Stimmt genau, Sylvia.
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