Arnold Retzer - Miese Stimmung
#1
Ich bin genervt von den ganzen Sprüchen wie "sei stark", "du musst doch nur mal lächeln und alles wird gut", "genieße die Sonnenseiten des Lebens" und so viele mehr. In Buchläden werde ich erschlagen von Optimismus- und Gute-Laune-büchern. Es ist nunmal so, dass ich traumatisch bedingt unter fetten depressiven Schüben leide und da nix ist mit Sonnenseiten. Da ist Depression, Trauer, Sog in die Tiefe. Ich bin - wenn ich nicht grad depressiv bin - echt ein vergnügter und optimistischer Mensch, ich kann positiv in die Zukunft schauen und brauche dazu keine Anleitung. Ganz im Gegenteil, dank meines inneren Clowns habe ich viel zu oft etwas versucht, was gar nicht möglich war. Fakt ist, das Leben ist manchmal einfach Scheiße: Erinnerungsschübe, Flashbacks, Dissoziationen und vieles mehr sind richtig scheiße und man fühlt sich auch so. Und - so geht es mir - dazu bekommt man gesagt, guck doch mal auf die Sonnenseiten des Lebens, also die, die man in dem Moment nicht mal ansatzweise in den Blick bekommt. Das erzeugt so oft eine Erwartungshaltung und einen inneren Druck, dem man kaum standhält.

Dem Autor geht das auch auf die Nerven und er stellt es in seiner Streitschrift auch deutlich dar. Das Leben ist nicht nur toll. Wer immer den Anspruch auf ein nur tolles Leben hat, dem geht es in der Erwartung des nur tollen Lebens noch viel schlechter, wenns mal nicht gut läuft. Auf den Punkt gebracht sagt Retzer, nimm was da ist, akzeptiere das, hab halt mal "miese Stimmung", erlaube es Dir und danach guck, was Du damit machst. Ohne echte Akzeptanz des Schlechten im Leben oder Fehlern wird man selbst den Ansprüchen nie gerecht und die Spirale kippt automatisch in die Depression.

Akzeptanz habe ich schon mal gehört, so deutliche Worte wie von Retzer, insbesondere zu den Auswirkungen fehlender Akzeptanz, noch nie.

Das Buch ist eine Streitschrift, nicht immer gut lesbar (er ist m.M.n. echt polemisch an manchen Stellen) und in Punkto Trauma eine Sauerei. Wer immer sich das Buch besorgt, überlest das Kapitel. Ich halte ihm zugute, dass er Schocktrauma meint und nicht Entwicklungstrauma, aber dennoch, so unverstanden hab ich mich selten gefühlt. Für die depressiven Schübe hat mir die Sicht jedoch richtig geholfen. Man muss nicht lachen, wenn man sich scheiße fühlt, man darf sich fühlen, wie man sich fühlt, es gibt kein Optimismus "Soll", kein ich "muss mich optimieren, dann wird alles besser"-Soll. Es ist wie es ist, man ist wie man ist, es fühlt sich an, wie es ist. Das darf alles sein, hat alles Berechtigung und DANACH kann man immer noch schauen, was man draus macht.

Das Leben ist manchmal weiß, manchmal schwarz und manchmal bunt.

Wer mag bekommt mit dem Video hier eine gute Einführung:
https://www.youtube.com/watch?v=jdm4o7-WJOU
Zitieren
#2
Ja Retzer beschreibt im Prinzip das buddhistische Prinzip, der Annahme der Realität gepaart mit einem Grundverständnis für sich selbst. Der einzig mögliche Weg auf Dauer gesehen in meinen Augen. ;)

Der Lebensgeist der Menschen ist so schwer zu läutern und so leicht zu verschmutzen wie eine Schale Wasser. (Lao Tse)


Zen-Weisheiten
Zitieren
#3
Retzer kenne ich garnicht, aber das was du schreibst liebe eifels schon - sehr gut sogar.
Ich habe mich von den Optimismus - Büchern stets ferngehalten.
Nicht weil ich etwas gegen Optimismus hätte sondern weil vieles was darin verkündet wird auf das "sei doch mal lustig" Argument herunterzubrechen
ist das Leute zu hören bekommen die auf einer Party einen depressiven Eindruck machen.
Hat jeder wahrscheinlich schon mitbekommen und dürfte daher wissen wie wenig das nutzt.
Ich bin allerdings in der glücklichen Lage lustig, fröhlich und sogar glücklich zu sein wenn es so ist - und wenn nicht, dann eben nicht.
Bin ich da jetzt ein Buddhist liebe ungestyme? :)
Fraglich auch ob man das mit Jude sein unter einen Hut bringen kann - da muß ich mal den Rebbe fragen.

glg
Rhy
Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein.
Arthur Schopenhauer
Zitieren
#4
Das buddhistische Prinzip lieber Rhy habe ich hier gar nicht auf den Glauben bezogen, sondern auf die zitierten Grundhaltungen, die im Buch beschrieben werden. Ob du buddhistische Züge dein Eigen nennst, weißt du sicher besser als ich. ;)

Der Lebensgeist der Menschen ist so schwer zu läutern und so leicht zu verschmutzen wie eine Schale Wasser. (Lao Tse)


Zen-Weisheiten
Zitieren
#5
Du, meine liebe ungestyme bist eine verdammt Gescheite - und lässt Dich auch von mir nicht auf`s Glatteis führen.
Nicht nur, aber auch ein Grund warum ich Dich sehr schätze. *freunde*

glg
Rhy
Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein.
Arthur Schopenhauer
Zitieren
#6
Dieses Buch sollte man all den Menschen zum lesen geben (und sie ggf. dazu auch zwingen), die meinen, man müsse doch immer gut drauf sein! *unzufrieden* Als könne man einfach einen Schalter umlegen und es ist alles gut, alle Sorgen passé!

Ich bin immer recht pragmatisch und zwinge mich nicht zum gut-drauf-sein, wenn ich mich nicht so fühle. Aber ich versuche auch, die Stimmung zu verbessern, wenn es mal wieder schwer ist.

Selbst möchte ich das Buch aber nicht lesen, eben wegen eifels Warnung. Aber trotzdem danke für die Vorstellung! *danke*
Blume

„Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.“
Sören Aabye Kierkegaard

"Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken."
Carlo Karges (Novalis)
Zitieren