23.10.2016, 12:29
Was passiert in unserem Gehirn durch eine Traumatisierung? Was sind unsere abgespaltenen Anteile oder Ich-Zustände und wie entstehen sie?
Die Diagnostik ist noch nicht einheitlich, so dass unterschiedliche Modelle zu unterschiedlichen Diagnosen und entsprechender Verwirrung führen. Hier wird das Modell der strukturellen Dissoziation nach (Nijenhuis) zugrunde gelegt.
Die Gehirnforschung hat sich mit Hilfe der bildgebenden Verfahren (z. B. MRT) auf den Weg gemacht, die neurobiologischen Vorgänge nachzuvollziehen und zu beschreiben. Der Gehirnforscher Gerald Hüther und der Traumaspezialist Lutz Besser und ihre Kollegen skizzieren die verarbeitenden Gehirnstrukturen als „Zwiebelschalenmodell“, wobei die innerste Schicht (Stammhirn) diejenige ist, die schon vorgeburtlich und in der Säuglingszeit funktionsfähig war (bitte auf die Bilder klicken, um sie zu vergrößern). Je weiter man nach außen geht, desto jünger sind die Funktionsschichten:
Jeder Reiz durchläuft normalerweise alle Schichten und wird von diesen verarbeitet bis zur Reaktion auf diesen Reiz. Bei einem traumatischen Erlebnis, wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind, sind die jüngeren Strukturen nicht mehr funktionsfähig und man kann sich einen Fahrstuhl vorstellen, der in Bruchteilen von Sekunden, ohne bei den anderen Verarbeitungsetagen anzuhalten, die traumatischen Reize durch die Schichten wie durch einen Schacht nach unten in die ältesten Gehirnstrukturen bringt. Das Stammhirn funktioniert noch und startet das Notfallprogramm und der Betroffene fällt in frühkindliche Reaktionsweisen zurück, als man weder flüchten noch kämpfen konnte.
Auf körperlicher Ebene macht sich das durch Erstarrung bemerkbar (Totstellreflex und Dissoziation) und im Gehirn werden die üblichen Reaktionen, wie z. B. die Speicherung des Erlebten im expliziten Gedächtnis und damit seine Einordung in Zeit und Kontext, übersprungen. Stattdessen wird das Trauma im impliziten Gedächtnis gespeichert und das Sprachzentrum fällt aus.
Es bilden sich je nach Zeitpunkt oder Zeitraum und Häufigkeit der Traumatisierung(en) ein oder mehrere traumaspezifische, neuronale Netzwerke (Fahrstuhlschächte), die immer wieder angesteuert werden, wenn ein neuer Schlüsselreiz (Trigger) die fragmentarisch gespeicherte Erinnerung aktiviert. Dann saust der Fahrstuhl wieder im Schacht bis nach ganz unten und es kommt zu Flashbacks, Dissoziationen etc.
Das Monotrauma als einmaliges Ereignis führt zur primären, strukturellen Dissoziation. Hier entsteht ein isoliertes, neuronales Netzwerk. Die Folge sind die bekannten, grundsätzlichen PTBS Symptome Vermeidung, Übererregbarkeit, emotionalen Betäubung und Intrusionen. Es wird ein Schacht gebildet, in dem die einzelnen, sinnlichen Aspekte des Erlebens, also Sinnes- und Körperwahrnehmungen, Bilder, Gefühle zersplittert (in den Sternchen dargestellt) sind.
Ego-States, Ich-Zustände, abgespaltene Persönlichkeitsanteile:
Die Entstehungsgeschichte der Ich-Zustände ist im Grunde gleich, egal ob alters, parts oder Anteile, nur die Ausprägung ist unterschiedlich. Es haben sich in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der sequentiellen (also nicht nur eins, sondern mehrere über längere Zeit hinweg) Traumatisierungen mehrere mehr oder weniger isolierte, neuronale Netzwerke (Fahrstuhlschächte) gebildet. Dabei gilt im Groben: Je früher die traumatischen Erfahrungen begonnen haben, desto isolierter sind die neuronalen Netzwerke.
So kann es zur sekundären strukturellen Dissoziation (mögliche Diagnosen: DESNOS oder Ego-State-Disorder) kommen, mit einer ANP und mehreren EPs. Hier bilden sich unterschiedliche Trauma-States (verknüpfte, isolierte neuronale Netzwerke bzw. Fahrstuhlschächte), die unterschiedliche Körperwahrnehmungen, Verhaltens- und Gefühlszustände haben (nämlich passend zum traumatischen Geschehen und dessen Zeitpunkt). In diese Ich-Zustände gerät der Betroffene als Reaktion auf einen Triggerreiz immer wieder hinein, wobei er sich z. B. wie ein Kind oder ein Jugendlicher fühlt und verhält. Dadurch, dass diese Netzwerke verknüpft isoliert sind, sind die Ich-Anteile keine komplett eigenständigen Persönlichkeiten.
Bei der tertiären strukturellen Dissoziation (DIS und andere, verwandte Diagnosen wie DDNOS, über die sich die Fachwelt nicht unbedingt einig ist) haben sich sowohl verknüpft isolierte (ANPs) als auch komplett isolierte (ENPs) neuronale Netzwerke gebildet, die sich als getrennt erlebte und handelnde Teilidentitäten mit eigenen Persönlichkeitsmerkmalen zeigen. In der Abbildung wird durch die grauen Keile und die blauen Pfeile die komplette Isolierung verdeutlicht:
Zum Abschluss nun ein optimistisch stimmendes Zitat aus der Arbeit von Hüther, Besser und ihren Kollegen:
Es geht in der Therapie also darum, die isolierten, neuronalen Netzwerke, also die Persönlichkeitsanteile, -identitäten, Ich-Zustände usw. im Alltagsbewusstsein zusammenzuführen und damit die Aufsplitterung so weit wie möglich zu beenden. Das geht zunächst über die Wahrnehmung der einzelnen Ich-Zustände und Teilidentitäten und im nächsten Schritt über die Förderung von deren Zusammenarbeit, durch die die Neuverschaltung in der Hirnrinde (im ersten Bild), die für das Hier und Jetzt zuständig ist, möglich ist.
Quellen: Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung Psychotrauma-bedingter Symptomatiken (Gerald Hüther, Alexander Korittko, Gerhard Wolfrum und Lutz Besser), Jochen Peichl: Die Inneren Traumalandschaften.
Die Diagnostik ist noch nicht einheitlich, so dass unterschiedliche Modelle zu unterschiedlichen Diagnosen und entsprechender Verwirrung führen. Hier wird das Modell der strukturellen Dissoziation nach (Nijenhuis) zugrunde gelegt.
Die Gehirnforschung hat sich mit Hilfe der bildgebenden Verfahren (z. B. MRT) auf den Weg gemacht, die neurobiologischen Vorgänge nachzuvollziehen und zu beschreiben. Der Gehirnforscher Gerald Hüther und der Traumaspezialist Lutz Besser und ihre Kollegen skizzieren die verarbeitenden Gehirnstrukturen als „Zwiebelschalenmodell“, wobei die innerste Schicht (Stammhirn) diejenige ist, die schon vorgeburtlich und in der Säuglingszeit funktionsfähig war (bitte auf die Bilder klicken, um sie zu vergrößern). Je weiter man nach außen geht, desto jünger sind die Funktionsschichten:
Jeder Reiz durchläuft normalerweise alle Schichten und wird von diesen verarbeitet bis zur Reaktion auf diesen Reiz. Bei einem traumatischen Erlebnis, wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind, sind die jüngeren Strukturen nicht mehr funktionsfähig und man kann sich einen Fahrstuhl vorstellen, der in Bruchteilen von Sekunden, ohne bei den anderen Verarbeitungsetagen anzuhalten, die traumatischen Reize durch die Schichten wie durch einen Schacht nach unten in die ältesten Gehirnstrukturen bringt. Das Stammhirn funktioniert noch und startet das Notfallprogramm und der Betroffene fällt in frühkindliche Reaktionsweisen zurück, als man weder flüchten noch kämpfen konnte.
Auf körperlicher Ebene macht sich das durch Erstarrung bemerkbar (Totstellreflex und Dissoziation) und im Gehirn werden die üblichen Reaktionen, wie z. B. die Speicherung des Erlebten im expliziten Gedächtnis und damit seine Einordung in Zeit und Kontext, übersprungen. Stattdessen wird das Trauma im impliziten Gedächtnis gespeichert und das Sprachzentrum fällt aus.
Es bilden sich je nach Zeitpunkt oder Zeitraum und Häufigkeit der Traumatisierung(en) ein oder mehrere traumaspezifische, neuronale Netzwerke (Fahrstuhlschächte), die immer wieder angesteuert werden, wenn ein neuer Schlüsselreiz (Trigger) die fragmentarisch gespeicherte Erinnerung aktiviert. Dann saust der Fahrstuhl wieder im Schacht bis nach ganz unten und es kommt zu Flashbacks, Dissoziationen etc.
Das Monotrauma als einmaliges Ereignis führt zur primären, strukturellen Dissoziation. Hier entsteht ein isoliertes, neuronales Netzwerk. Die Folge sind die bekannten, grundsätzlichen PTBS Symptome Vermeidung, Übererregbarkeit, emotionalen Betäubung und Intrusionen. Es wird ein Schacht gebildet, in dem die einzelnen, sinnlichen Aspekte des Erlebens, also Sinnes- und Körperwahrnehmungen, Bilder, Gefühle zersplittert (in den Sternchen dargestellt) sind.
Ego-States, Ich-Zustände, abgespaltene Persönlichkeitsanteile:
Die Entstehungsgeschichte der Ich-Zustände ist im Grunde gleich, egal ob alters, parts oder Anteile, nur die Ausprägung ist unterschiedlich. Es haben sich in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der sequentiellen (also nicht nur eins, sondern mehrere über längere Zeit hinweg) Traumatisierungen mehrere mehr oder weniger isolierte, neuronale Netzwerke (Fahrstuhlschächte) gebildet. Dabei gilt im Groben: Je früher die traumatischen Erfahrungen begonnen haben, desto isolierter sind die neuronalen Netzwerke.
So kann es zur sekundären strukturellen Dissoziation (mögliche Diagnosen: DESNOS oder Ego-State-Disorder) kommen, mit einer ANP und mehreren EPs. Hier bilden sich unterschiedliche Trauma-States (verknüpfte, isolierte neuronale Netzwerke bzw. Fahrstuhlschächte), die unterschiedliche Körperwahrnehmungen, Verhaltens- und Gefühlszustände haben (nämlich passend zum traumatischen Geschehen und dessen Zeitpunkt). In diese Ich-Zustände gerät der Betroffene als Reaktion auf einen Triggerreiz immer wieder hinein, wobei er sich z. B. wie ein Kind oder ein Jugendlicher fühlt und verhält. Dadurch, dass diese Netzwerke verknüpft isoliert sind, sind die Ich-Anteile keine komplett eigenständigen Persönlichkeiten.
Bei der tertiären strukturellen Dissoziation (DIS und andere, verwandte Diagnosen wie DDNOS, über die sich die Fachwelt nicht unbedingt einig ist) haben sich sowohl verknüpft isolierte (ANPs) als auch komplett isolierte (ENPs) neuronale Netzwerke gebildet, die sich als getrennt erlebte und handelnde Teilidentitäten mit eigenen Persönlichkeitsmerkmalen zeigen. In der Abbildung wird durch die grauen Keile und die blauen Pfeile die komplette Isolierung verdeutlicht:
Zum Abschluss nun ein optimistisch stimmendes Zitat aus der Arbeit von Hüther, Besser und ihren Kollegen:
Zitat:Die für traumatisierte Personen ebenso wie für Ihre Therapeuten wichtigste mutmachende Botschaft der Neurobiologen lautet: Das menschliche Gehirn ist … veränderbarer als bisher angenommen. Zeitlebens können die zu früheren Zeitpunkten entstanden neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungsmuster durch neue Nutzungsmuster umgeformt – und überformt werden.
Es geht in der Therapie also darum, die isolierten, neuronalen Netzwerke, also die Persönlichkeitsanteile, -identitäten, Ich-Zustände usw. im Alltagsbewusstsein zusammenzuführen und damit die Aufsplitterung so weit wie möglich zu beenden. Das geht zunächst über die Wahrnehmung der einzelnen Ich-Zustände und Teilidentitäten und im nächsten Schritt über die Förderung von deren Zusammenarbeit, durch die die Neuverschaltung in der Hirnrinde (im ersten Bild), die für das Hier und Jetzt zuständig ist, möglich ist.
Quellen: Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung Psychotrauma-bedingter Symptomatiken (Gerald Hüther, Alexander Korittko, Gerhard Wolfrum und Lutz Besser), Jochen Peichl: Die Inneren Traumalandschaften.
Be Yourself. Everyone else is already taken. (Oscar Wilde)